26.08.2009
Charisma oder Unterscheidbarkeit
Der Gebrauch des Charisma-Begriffs in der Politik ist eng mit der
Herrschaftstheorie des Soziologen Max Weber verknüpft, die in seinem
posthum 1922 erschienen Hauptwerk "Wirtschaft und Gesellschaft"
veröffentlicht wurde. Hier stellte er die charismatische Herrschaft
der rationalen (legalen bzw. bürokratischen) und der traditionellen
(patrimonialen) Herrschaft gegenüber.
Im Unterschied zur rationalen und traditionalen Herrschaftsform, die
in unterschiedlichen kulturellen und sozialen Kontexten als
"Normalformat" von Herrschaft aufzufinden sind und daher etwas
Alltägliches aufweisen, zeigt sich die charismatische Herrschaft für
Weber vor allem in Ausnahme-Situationen, die wir heute gerne mit dem
Wort der Krise belegen. Krisen sind die Bühne für den Auftritt von
Personen mit einer charismatischen Ausstrahlung, die von ihrer eigenen
Sendung überzeugt sind und andere von ihrer Sendung zu überzeugen
vermögen. Diese Bereitschaft zur persönlichen Gefolgschaft legitimiert
ihre Macht, die allerdings sehr labil ist. Wird die Gefolgschaft
verweigert, endet die charismatische Herrschaft in der Regel in einer
Diktatur oder dem Untergang in die Bedeutungslosigkeit.
Beispiele für Charismatiker sind zahlreich. Unter ihnen finden sich
Heilsgestalten wie Jesus, Gandhi und der Dalai Lama ebenso wie
Verbrecher wie Hitler oder Osama Bin Laden.
Insofern dürfte man erwarten, dass in Demokratien einer
charismatischen Ausstrahlung von Spitzenpolitikern zumindest Skepsis
entgegengebracht wird. Denn das zentrale Merkmal der Demokratie,
Parteien und Personen zu wählen, die sich für ihr Handeln (und nicht
für ihre persönliche Ausstrahlung) zu rechtfertigen haben, steht den
Prinzipien charismatischer Herrschaft diametral entgegen. Anders
ausgedrückt: der Mangel an charismatischem Talent bei unseren
Spitzenpolitikern seit dem Rückzug von Schröder und Fischer sollte uns
eigentlich als Demokraten nicht beunruhigen (auch Lafontaine hat ja
seine charismatischen Höhepunkte schon hinter sich). Außerdem sollte
es uns angesichts unseres seit langem etablierten System der
Sozialisation zum Berufspolitiker auch nicht verwundern, dass auf
diesem Nährboden keine Charismatiker gedeihen können (oder habe ich
hier irgend jemanden übersehen?).
Andererseits leben wir seit etwa seit 40 Jahren in Krisenzeiten.
Arbeitlosigkeit, Ökologie, Terrorismus, Gesundheitswesen,
Finanzwirtschaft - lauter Krisenherde, deren Löschung wir von der
Politik (und von Politikern) erwarten. Dass dafür bürokratische oder
traditionale Modelle nicht mehr ohne Weiteres in Frage kommen, haben
wir mittlerweile begriffen, dass Politiker damit womöglich strukturell
ohnehin überfordert sind, wollen wir noch nicht akzeptieren (weil das
natürlich Auswirkungen auf unsere Wahlbeteiligung hätte).
Politiker sollen also unterschiedliche Dinge meistern. Einmal sollen
sie mit Sachverstand ihren Job machen und möglichst rationale Lösungen
für (lösbare und unlösbare) Probleme basteln, andererseits sollen sie
unsere Angst vor der Krise nehmen, indem sie Überzeugungskraft,
Führungsstärke und Durchsetzungsvermögen präsentieren, verbunden mit
Optimismus, Siegeswillen und Zuversicht, die unsere Gefolgschaft
sichern können.
Steinmeier und Merkel haben sicherlich ihre Qualitäten, wenn es darum
geht, ihre Arbeit geräuschlos zu machen. Weil es aber mit dem Charisma
der Kandidaten hapert, klingen ihre Verlautbarungen hohl und
langweilig, staatstragend gestelzt und absolut nichts-sagend. Da hilft
auch die Inszenierung der Kandidaten als Privatpersonen nicht weiter.
Wenn die User der Charisma-Kurve empfehlen, mehr mit der Faust auf den
Tisch zu hauen oder Unkonventionelles zu wagen, dann geht es
wahrscheinlich nicht um den Wunsch, charismatische Herrschaft ins
Kanzleramt zu bringen, sondern die Kandidaten zu ermutigen, etwas zu
tun, was sie vermeiden wie der Teufel das Weihwasser, nämlich ein
Risiko einzugehen.
Da Krisen aber immer etwas mit dem Eingehen und mit der Bewältigung
von Risiken zu tun haben, ist es ein berechtigter Anspruch des
Publikums, zu erfahren, wie Politiker mit Risiken umgehen. Für etwas
einzustehen, ist immer mit dem Risiko verbunden, auf Widerspruch zu
stoßen. Dafür wird man unterscheidbar, was überhaupt erst eine
Wahlmöglichkeit schafft.
Koalitionen müssen ihre Unterschiede verkleinern, um gemeinsam handeln
zu können. Im Wahlkampf kann erwartet werden, dass die Unterschiede
wieder erkennbar werden. Frau Merkel scheint momentan aber nach der
Maxime "wer nichts sagt, sagt auch nichts falsches" zu handeln (Ihr
Wirtschaftsminister leugnet sogar, eine Position gehabt zu haben). Das
übergreifende Motto scheint zu sein, nur Dinge zu sagen, auf die
möglichst viele Ja sagen können. Und wenn man schon keine wirklichen
Unterschiede ausmachen kann, kann ja alles so bleiben, wie es ist.
Immerhin können wir uns dann damit trösten, dass wir jedenfalls nicht
in die Fänge eines charismatischen Volksverführers geraten.
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